Die weitreichenden Verbotspläne für Lebensmittelwerbung des Bundesernährungsministeriums ernten in mehreren Experten-Gutachten scharfe Kritik: Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Justus Haucap warnt vor erheblichen Folgen für die Medienvielfalt, die Rechtsexperten Prof. Dr. Martin Burgi und Prof. Dr. Marc Liesching bewerten die Verbotspläne als verfassungs- und europarechtswidrig, die Statistiker:innen Prof. Dr. Walter Krämer und Katharina Schüller kritisieren die fehlende Evidenzbasierung des Gesetzesentwurfs.
Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Justus Haucap warnt in einem ökonomischen Gutachten zum Entwurf des Kinder-Lebensmittel-Werbegesetzes vor erheblichen Folgen für die Medienvielfalt und Nachteilen für die privaten Medien im Wettbewerb mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Prof. Dr. Haucap stellt fest, dass die weitreichenden Verbotspläne für Lebensmittelwerbung, „anders als vom Bundesernährungsministerium suggeriert“, nicht nur an Kinder gerichtete Werbung für HFSS-Lebensmittel untersagt, sondern vielmehr ein nahezu generelles Werbeverbot für den überwiegenden Anteil aller Lebensmittel bedeuten würden. Konkret würden 74 Prozent der Bruttowerbeumsätze mit Lebensmitteln entfallen. Das würde die Finanzierungsgrundlage der privaten Medien stark beschneiden und ihre Wettbewerbsposition schwächen. Besonders lokale und regionale Radiosender seien gefährdet. Aber auch bei größeren Rundfunkanbietern werde ein erheblicher Kostendruck ausgelöst.
Der Ökonom weist auch darauf hin, dass die stark eingeschränkten Werbemöglichkeiten der Lebensmittelunternehmen eine Markteintrittsbarriere für Newcomer wären. Sie hätten de facto keine Möglichkeit mehr, für ihre Produkte zu werben und Marktanteile zu erobern. Dadurch würde die Wettbewerbs- und Innovationsdynamik erheblich leiden. Gleichzeitig kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler, dass die empirische Evidenz für die Wirkung eines Werbeverbots auf das Körpergewicht fehle, weshalb davon auszugehen sei, dass das Gesetz sein Ziel verfehlen werde.
Prof. Dr. Justus Haucap ist Direktor des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie (DICE). Er war von Juli 2006 bis Juni 2014 Mitglied der Monopolkommission. Das Gutachten wurde von den Wirtschaftsökonomen Prof. Dr. Justus Haucap, Dr. Ina Loebert und Dr. Susanne Thorwarth im Auftrag des Markenverbands erstellt.
Die Statistiker:innen Prof. Dr. Walter Krämer und Katharina Schüller bewerten die Werbeverbotspläne für Lebensmittel als unverhältnismäßig und unwissenschaftlich.
In ihrem neuen Gutachten stellen sie fest, dass keine der von Ernährungsminister Özdemir und seinem Ministerium zur Begründung ihrer Pläne angeführten Studien einen Zusammenhang zwischen Lebensmittelwerbung und Übergewicht bei Kindern belegen können.
Auch die immer wieder angeführte Behauptung, Kinder würden täglich 15 Werbespots für besonders fett-, zucker- oder salzhaltige Lebensmittel sehen, sei schlichtweg falsch. Die untersuchten Studien wiesen zahlreiche methodische Fehler und Fehlinterpretationen auf oder würden fahrlässig oder absichtlich missinterpretiert. Ein solcher Umgang mit Studien schade der Wissenschaft und der Debattenkultur, so Schüller. Klar sollte sein, dass ein Gesetzesvorhaben, das nachweislich auf eklatant falschen Annahmen basiert, keine Zukunft haben darf.
Studien werden fahrlässig oder absichtlich von Befürwortern eines Werbeverbots missinterpretiert und dienen offensichtlich nur als Alibi in der öffentlichen Diskussion.
Katharina Schüller, Vorstandsmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft und Gründerin der STAT-UP Statistical Consulting & Data Science GmbH
Prof. Dr. Martin Burgi betrachtet den vom grünen Bundesernährungsminister Cem Özdemir vorgelegten Entwurf eines Kinder-Lebensmittel-Werbegesetzes (KWG) als „verfassungs- und europarechtswidrig“.
Er basiere statt auf einer evidenzbasierten Gefahrenprognose auf einer reinen Gefahrenvermutung „ins Blaue hinein“ – denn nach eigener Aussage des Bundesernährungsministeriums (BMEL) gebe es keine belastbaren Studien zur Wirkung von Werbeverboten für die als solche ja weiterhin erlaubten Lebensmittel. Laut Gutachten würden die Verbotspläne Werbung für etwa 70 bis 80 Prozent aller Lebensmittel erfassen. Darüber hinaus unterscheide sich der Referentenentwurf signifikant von vorherigen politischen Verlautbarungen im Koalitionsvertrag, so Prof. Dr. Burgi, in dem die Regierungsparteien Einschränkungen für „an Kinder gerichtete Werbung“ für bestimmte Lebensmittel „bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige“ vorsehen.
Prof. Dr. Burgi ist Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Umwelt- und Sozialrecht. Das Gutachten wurde im Auftrag des Lebensmittelverbands und des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) erstellt.
Gutachten von Prof. Dr. Martin Burgi „Werbeverbote für Lebensmittel aufgrund ihres Zucker-, Fett- oder Salzgehalts als Eingriffe in die Kommunikations- und Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“.
Auf Basis einer bloß gefühlten und bislang nicht belegten Gefahr derart weitreichende Freiheitsbeschränkungen vorzunehmen, ist – soweit ersichtlich – beispielslos.
Prof. Dr. Martin Burgi, Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Der Medienrechtsexperte Prof. Dr. Marc Liesching sieht im Gesetzentwurf des BMEL einen verfassungswidrigen Eingriff in die Medien- und Werberegulierungskompetenz der Länder. Die BMEL-Pläne stünden rechtlich auf „tönernen Füßen“.
In seinem Gutachten zu „Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt (HFSS)“ stellt Prof. Dr. Liesching fest, dass der Bund keine Gesetzgebungskompetenz hat, da die Zuständigkeit in der Medienregulierung – und entsprechend der Werberegulierung in Rundfunksendungen (Fernsehen und Hörfunk) und in rundfunkähnlichen Telemedien – bei den Bundesländern liegt. Er weist zudem darauf hin, dass der Rahmen europarechtlich schon durch die AVMD-Richtlinie vorgegeben ist – „die hier Selbstregulierung vorsieht“, so der Experte. Die geplanten massiven Einschränkungen für Lebensmittelwerbung in praktisch allen Medien gingen weit über die bestehenden Regelungen hinaus und greifen damit in die verfassungsrechtlichen Grundfreiheiten der Medienanbieter ein.
Darüber hinaus unterfielen die bei Kindern besonders beliebten Social-Media-Inhalte den neuen Werberegelungen faktisch nicht, da solche Verbote aufgrund der Vorgaben des Herkunftslandprinzips grundsätzlich nicht für Anbieter gelten, die ihren Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat haben – wie z. B. die großen Big-Tech-Plattformen.
Prof. Dr. Marc Liesching ist Medienwissenschaftler an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig und Mitherausgeber der Fachzeitschrift Multimedia Recht (MMR). Das Gutachten wurde im Auftrag vom ZAW und vom Lebensmittelverband Deutschland erstellt.
Das Gutachten kann beim ZAW angefragt werden. MMR-Editorial von Prof. Dr. Marc Liesching “Gummibärchen im Nachtprogramm“.
Für die privaten Rundfunkveranstalter ist der Entwurf eines Kinder-Lebensmittel-Werbegesetzes existenzgefährdend.
Prof. Dr. Marc Liesching, Medienwissenschaftler an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig
Zum Hintergrund
Bundesernährungsminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) stellte am 27. Februar 2023 Eckpunkte eines „Gesetzes zum Schutz von Kindern vor Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt“ (Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz /KWG-E) vor. Der Gesetzentwurf sieht weitgehende Einschränkungen und Verbote bei der Bewerbung von Lebensmitteln vor in allen „für Kinder relevanten Medien“. Auf diese Weise soll Übergewicht bei Kindern reduziert werden. Das Werbeverbot beträfe rund 70 Prozent aller verarbeiteten Lebensmittel, darunter auch Grundnahrungsmittel wie Butter, zahlreiche Arten von Wurst & Käse, Müsli, Teigwaren oder Quark. Es würde für alle TV- und Radiosendungen von 6 bis 23 Uhr gelten – unabhängig davon, ob es sich um Kinder- oder Erwachsenenprogramme handelt.